Axiom
Kennt ihr sie nicht auch?
Diejenigen, die scheinbar immer etwas Interessantes zu erzählen haben. Jene Personen, die es schaffen, einen Lebenslauf zu demonstrieren, der so unfassbar überwältigend ist – einen Lebenslauf, bei dem einfach alles stimmig ist. Ständig scheinen sie etwas Spektakuläres zu erleben – selbst bei dem Gang zum Supermarkt. Sie berichten von den wahnsinnigsten Begegnungen: Als ich aus dem Supermarkt kam, sah ich auf der anderen Straßenseite einen Mann stehen, der völlig nackt war. Die Art und Weise, wie er ging, wie er lässig darauf wartete, dass die Ampel auf Grün schaltete, als sei das die normalste Sache der Welt… Julius (gespielt von Moritz Treuenfels) im Film Axiom (Regie: Jöns Jönsson) ist diese Person. Nicht die nackte Person. Er ist der Geschichtenerzähler. Dies ist eine Geschichte von ihm. Eloquent. Präsent. Aber wer ist dieser Julius wirklich?
Der Bootstrip
Zu Beginn des Filmes lernen wir Julius als geselligen jungen Mann kennen – als Museumswärter lädt er seinen Kollegen (er ist neu in der Stadt) zu einem Segelausflug mit seinen Freunden ein. Er hat es vorher nicht abgeklärt – er hat jedoch das Selbstbewusstsein, Menschen einfach mitzunehmen, auch wenn sich Widerstände ergeben. Fast theatralisch wird seine Aufregung, als seine Freunde ihre Rettungswesten vergessen hatten – sie wären lebenswichtig, und es sei seiner Vergangenheit geschuldet, dass er auf diese besteht. Doch das hätte er ihnen gar nicht gesagt!
Man müsse den Trip abbrechen, doch: Direkt dort wo sein Schiff stünde ist ein Laden, und dieser Laden verkauft zufällig Schwimmwesten und hat auch noch geöffnet! Beim Laden angekommen kommt es zu einem epileptischen Anfall von Julius – ein Schock – im Krankenhaus wird er von seiner Mutter abgeholt, und der absurde Spaß beginnt: Offensichtlich besitzt die Familie gar kein Boot. Seiner Mutter ist es peinlich. Warum diese Lügengeschichten? Ein epileptischer Anfall, weil sein Lügenkonstrukt sonst aufgeflogen wäre?
Ein pathologischer Lügner
Die Geschichte des nackten Mannes oben wiederholt Julius zu gerne – auch, als er mit seiner Freundin und ihren Eltern essen geht. Denn diese Geschichte mit der ich diesen Text einleitete stammt nicht von mir, zuerst hörte ich sie im Film Axiom von Julius. Doch als er die Geschichte den Eltern seiner Freundin erzählt, ist seine Freundin offensichtlich verwirrt. Diese Geschichte hat sie doch ihm erzählt, und nicht umgekehrt? Sie hatte das erlebt.
Sie kennt ihn nicht als Museumswärter, sondern als jungen Architekten. In einer kuriosen Szene erleben wir, wie Julius in ein Architektenbüro geht und dort mit den Mitarbeitern über seine Projekte spricht – als gehörte er dazu – bis er nicht klar kommunizieren kann mit wem er zusammenarbeitet und weggeschickt wird. Für seine WG Mitbewohner hingegen hat er ein Kunststipendium und wird demnächst ins Ausland reisen. Spannend wird es, weil kleine Fehler passieren – und sagen wir es mal so: Auch wir wussten zunächst nicht, dass der Bootstrip eine Lüge gewesen ist. Doch als seine Freunde vom Bootstrip ihn in der WG besuchen (sie machten sich Sorgen, er meldete sich nach dem epileptischen Anfall nicht mehr), kommt es zu einer ungewünschten Konfrontation. Schließlich gibt er sich seinen Mitbewohnern anders, als seinen Bootstripfreunden…
Julius als Karikatur des sozialen Menschen
Jöns Jönsson spielt mit Axiom geschickt mit der Frage der sozialen Identität – in-your-face wird der sympathische Julius als Geschichtenerzähler in Reinform präsentiert, und es ist faszinierend ihm zuzuhören. In Axiom wird die Idee von „Fake it till you make it“ bis zum Äußersten getrieben und sagt damit auch etwas über unsere soziale Identität. Der Film verkörpert moderne Ideale der Selbsterfindung – ein Ideal, das nun insbesondere in Zeiten der sozialen Medien ein immer höheres Gewicht zu erhalten scheint. Inzwischen begleitet uns diese Dissoziation der eigenen „inneren“ Person und der „äußeren“ Person von Geburt bis zum Tod – z.B. dann, wenn bereits Instagram Kanäle mit Baby Stories bespielt werden. In Axiom wird mit Julius ein Objekt dieser Art geschaffen, in der Julius in voller sozialer Interaktion mit seiner Umwelt steht, und gleichzeitig auf krasseste Weise isoliert von dem eigenen, realen Selbst ist. Dies zu beobachten, ist faszinierend.
Äußere Identität! – Innere Identität?
Die Figur Julius in Axiom ist eine gelungene Karikatur der menschlichen Identität: der Spaltung der inneren und äußeren Identität. Julius äußere Identität verstrickt sich in Widersprüchen – hier liegt das Spannungsmoment des Filmes und dieser wurde solide etabliert – ständig könnte die eine oder andere Lüge aufgedeckt werden und das Kartenhaus seines falschen Lebens in sich zusammenbrechen. Kaum ein anderer Film kann die Spaltung der menschlichen Identität im sozialen Kontext so deutlich aufzeigen. Was fehlt, ist ein gelungener Einblick in die innere Identität von Julius und welche Bedeutung dieses Spiel für ihn trägt – und was das im Kern für das Menschsein bedeutet. Immer wieder hatte ich das Gefühl, dass der Versuch nicht gelingt, wirklich etwas über die innere Identität von Julius zu sagen – eben mehr, als das reine Spiel zu zeigen.
Doch die Versuche sind da: Gerade dann, wenn Julius mit seiner Familie ist, mit seiner Mutter, mit seinem Bruder. Letztendlich fehlt in diesen Interaktionen ein emotionaler Zugang zur Figur und der Motivation. Doch auch unsere Identitätswechsel haben einen Ursprung in der Natur des Menschen – und es wäre spannend, die Natur zu erkunden. Letztendlich bleibt die Argumentation, dass Julius ein eher uninteressantes Leben führt – er sich jedoch als interessanter Mensch gibt: Faszinierende Berufe, herausragende Talente. Doch diese Argumentation spiegelt die Oberfläche.
Fazit
Axiom ist ein gelungener und unterhaltsamer Film – gekonnt führt Regisseur Jöns Jönsson uns mit der Figur Julius vor Augen, was es bedeutet, eine soziale Rolle zu spielen und eine soziale Identität anzunehmen. Moritz Treuenfels hat die Figur sehr überzeugend gespielt. Doch wäre hier so viel mehr drin gewesen! Dieser Rahmen bietet ein ungeheures Potenzial die Natur des Menschen zu erkunden. Hier bleibt Axiom jedoch leider an der Oberfläche. Dadurch bleibt der Eindruck, dass dieser Film ein Kurzfilm hätte sein können. Was der Film zu sagen hat, ist im Prinzip nach der Hälfte der Spielzeit bereits auserzählt.