The Last Goze

23. Japan Filmfest Hamburg: Eröffnungsfilm

Im Abspann des Filmes The Last Goze (2020) von Masaharu Takizawa horchen wir dem Gesang der wahrlich letzten Goze Haru Kobayashi (1900-2005). Haru Kobayashi gilt als Nationalschatz. Sie war die letzte Repräsentantin der Jahrhunderte alten Kultur der Goze. Goze waren blinde Künstlerinnen, die nach schwerer Ausbildung durch das Land reisten und in kleinen Gemeinden ihre Kleinkunst präsentierten. Im Alter von 105 Jahren starb Haru Kobayashi  in ihrer Heimat. Damit ging damit auch der Stand der goze zu Ende. Heute ist die Existenz dieser außergewöhnlichen Tradition unbekannt. Regisseur Masaharu Takizawa zeigt uns diese Tradition und das Leben der herausragenden Haru Kobayashi. Angefangen mit Harus schwerer Ausbildung als Kind (als Kind gespielt von Kawakita Non) bis hin zu ihrer überzeugenden Persönlichkeit als junge Frau (als Erwachsene gespielt von Yoshimoto Miyu).

Präsentation und Dramatik

Zu Beginn wird auf dem Bildschirm eine Warnung eingeblendet, die besagt, dass die raue Sprache und die Handlungen lediglich den damaligen Stand der Dinge widerspiegeln würden. Prominent gesetzt erhebt dieser Satz den Anspruch einer authentischen Repräsentation – gleichzeitig wirkt dies wie eine geschickte Ausrede, um eine kritische und differenzierte Auseinandersetzung mit den psychosozialen und gesellschaftlichen Implikationen des Goze-Stands zu vermeiden. Die Darstellung wird als IST-Zustand definiert. Dabei steht dieser Satz im großen Kontrast zu dem, was uns gezeigt wird.

Leider ist die Kunst der Goze vergessen – der Blick darauf ist jedoch lohnend. Masaharu Takizawa größte Leistung ist, dieser Kunst eine Bühne zu liefern. Die Wahl des Themas allein hat einen ungeheuren Wert. Es ist schade, dass der Film es jedoch nicht schafft, eine Kongruenz der Qualität des Inhalts und der Dramaturgie zu erzeugen. Die Abbildung ist spannend – ohne Frage – doch verliert sich der Film im Wunsch einer dramatischen Geschichte – schafft es dabei nicht, eine glaubwürdige Geschichte des menschlichen Miteinanders zu schaffen.

The Last Goze (2020) besteht aus einer Aneinanderreihung von Szenen, bei der dramaturgische und musikalische Übergänge holprig wirken. Schnitte sind immer harte Cuts – es fehlen natürliche Übergänge, sowohl im Erzähltempo als auch in der Darstellung des menschlichen Erlebens. In jeder Szene wirken emotionale Zustände wie hart definierte undynamische Zustände – es fehlen Facetten und differenzierte Interaktionen. Am deutlichsten wird dies an der Charakterisierung von Harus Lehrerinnen. Die erste Lehrerin (Haru begleitet verschiedene Goze als Praktikantin) ist unglaublich hart – immer – wie mit dem Vorschlaghammer. Dabei handelt es sich um eine bloße Darstellung, ohne auch nur einen ansatzweisen authentischen Einblick in die Motivation dieses Umgangs von ihr zu gewähren. Masaharu Takizawa wollte wohl zeigen: Haru hatte es nicht leicht. Er vergisst dabei zu erkunden, was sich menschlich darin verbirgt. Ihre zweite Lehrerin hingegen ist Haru gegenüber sehr lieb – ein Kontrastprogramm, doch so wird aus der Bedingung einer harten Ausbildung eine menschliche Entscheidung: Wieso unterscheiden sich die Lehrerinnen in ihren Methoden so sehr? Und was macht das mit Haru? War dies gerechtfertigt? Oder nicht? Im Mittelpunkt steht die harte Ausbildung – bereits ihre Mutter drillt Haru förmlich mit der Begrüdung, dass es für Haru absolut notwendig wäre, auf eigenen Beinen stehen zu können.

Der feine Beobachter

Mit Haru erleben wir in einer Szene zumindest den Versuch einer komplexen Figur – als sie selbst eine Schülerin als Oger bezeichnet, kommen ihr die Tränen. Denn sie hatte ihre eigene Mutter als Kind ebenfalls als Oger bezeichnet, wegen ihrer harten Methoden. Trotz all ihres Leids als Kind kopiert sie die harten Methoden ihrer Mutter. In den Fußstapfen ihrer Mutter findet sie sich in einem einfachen, inneren Konflikt wieder. Leider schafft Takizawa es nicht, diesen psychologischen Konflikt auszuarbeiten, es fehlt der Weg dorthin – es fehlt der feinfühlige Blick, es fehlt ein Zugang, der uns vielleicht verraten hätte, wie es sich wirklich als Goze angefühlt hatte, wie es für ihre Familien war, und was es bedeutete, in einer Zeit, die gar nicht so lange her ist, blind zu sein.

So bleibt für uns eine schwierige Aufgabe – wir müssen die authentischen historischen Inhalte von den psychologischen Beobachtungen und dramaturgischen Entscheidungen des Regisseurs trennen. Diese scheinen mehr Mittel zum Zweck zu sein als eine wirkliche künstlerische Auseinandersetzung des Lebens als Goze. In einer gestelzten Dramaturgie schafft er es nicht, eine tiefe und erwachsenes Porträt zu malen. Er zeigt uns bloß, mit einfachen Farben, erzählt uns jedoch nicht mehr – wir möchten ihm nicht horchen, denn seine Geschichten sind zu einfach. Das, was er über das Menschsein, über die Gesellschaft, über die Emotionswelten von Menschen in der Situation einer Goze und mit einer Goze zu sagen hat, wirkt blind.

Licht und Schatten

Der Film ist nicht auf dem Punkt – zeitweilig wirkt die Musik deplatziert, in anderen Momenten wirken Schnitte nicht gelungen gesetzt. An einigen Stellen hätten Szenen mehr Zeit gebraucht – und die Schauspieler*innen mehr Raum. Überzeugend jedoch war das Spiel mit dem Licht, das der Regisseur eindrucksvoll (sowohl technisch als auch symbolisch) im Kontext der nicht-sehenden Goze eingesetzt hat.

Gerne betrachten wir die Geschichte von The Last Goze (2020) – die Kultur ist faszinierend und bereits ein nüchterner Blick hätte ausgereicht, um eine faszinierende Geschichte zu erzählen. Leider verliert sich der Regisseur in einer weniger gelungenen Dramatik, nimmt der Geschichte somit ihre Authentizität und wird dem Anspruch eine IST-Darstellung nicht gerecht, obwohl er diesen Anspruch selbst am Anfang des Filmes erhebt. Auch sind hier die Grenzen zwischen historischer Faszination und unberechtigter Romantik fließend. Es bleibt ein riesiges Potenzial, ein interessantes Bild, doch es fehlt der menschliche Einblick und was das Leben und Leiden der Goze für uns als Menschen und für die Gesellschaft wirklich bedeuten.

Bild: JFHH 2023 /  Masaharu Takizawa  / Aus „The Last Goze (2020)“