Women Talking (2022)
In Sarah Polleys Women Talking (Dt.: Die Aussprache) basierend auf dem gleichnamigen Roman von Miriam Toews werden Frauen einer abgelegenen religiösen Gemeinschaft mit Beruhigungsmittel für Kühe betäubt und regelmäßig in der Nacht vergewaltigt. Es wären Geister, Dämonen oder sogar Satan selbst, die sich an Ihnen vergriffen hätten. Eine Art Strafe für ihre moralischen Fehlbarkeiten. Sie schenkten Ihren Männern Glauben, gottesfürchtig. Sie glaubten dieser ungeheuren Lüge, bis zwei junge Mädchen einen der Vergewaltiger sahen, nachdem er sich davonschlich als er eines Nachts seine Tat beging und eine Frau vergewaltigte. Einige der Männer wurden nach Geständnis des Täters verhaftet. Andere Männer der Gemeinschaft haben sich jedoch in die Stadt begeben, um eine Kaution zu hinterlegen. Die Frauen der Kolonie haben etwa 48 Stunden Zeit, um zu entscheiden, wie ihre Zukunft aussehen wird.
Sie beginnen mit einer demokratischen Abstimmung, in welcher es drei mögliche Entscheidungen gibt: 1) Sie bleiben und bitten um Vergebung, 2) sie bleiben und wehren sich und 3) sie verlassen die Gemeinschaft. Letztendlich kommt es zu einem Gleichstand der zweiten und dritten Möglichkeit. Es kommt zu einer Debatte, die wegen der zeitlichen Rahmenbedingungen zwangsläufig zu einer Entscheidung führen muss. Sollten sie flüchten und einen sicheren Ort suchen? Oder sollten sie sich wehren und bleiben?
Philosophieklassenstunde und die Dekonstruktion einer Debatte
Sarah Polley nimmt während der gesamten Spielzeit diese Debatte unter die Lupe: auf der einen Seite werden Argumente vorgetragen, die für das Bleiben sprechen, auf der anderen Seite, natürlicherweise, Argumente der Flucht. Die Argumente sind einfach. Ja, letztendlich so offensichtlich, dass sich jede*r Zuschauer*in die Argumente selbst erdenken könnte: Sie reichen von religiös-hergeleiteten pazifistischen Positionen hin zu ganz pragmatischen Fragestellungen. Wie beispielsweise sollten sie sich ohne Ortskenntnisse oder Karten in der Welt orientieren? Die Argumente sind so offensichtlich, dass sie einem Ethikkurs der 7. Klasse entsprungen sein könnten.
In diesem Szenario (ungeachtet der wahren Begebenheit) führen patriarchale Strukturen dazu, dass Mädchen keinen direkten und umfassenden Zugang zu Bildung genießen können. Dies ist für die Konstruktion der Debatte essenziell – gesellschaftliche Debatten insbesondere jene der Moral entziehen sich einer wie auch immer geordneten Herrschaft der Wissenden. Selbst in der täglichen politischen gesellschaftlichen Debatte wird bei politischen Mandatsträger*innen eine Art Qualifizierung vorausgesetzt. Auf Grundlage fehlender Berufsqualifizierung werden Personen im Diskurs herabgewürdigt. Es entstehen Ideen der faktenbasierten Politik – Fakten sind bei vielen Entscheidungen jedoch gar kein Kriterium. Unsere Ideen des guten Miteinanders entziehen sich bei entscheidenden Fragestellungen jedweder Fakten, etwa: Ist es richtig einen Menschen unter bestimmten Umständen zu töten, wie bei der Todesstrafe? Fragestellungen dieser Art lassen sich nicht faktenbasiert lösen.
Es wäre demnach zu einfach gedacht, dieses Szenario auf die Intelligenz der Argumentationsstruktur der Debatte zu reduzieren. Dies wird einerseits nicht dem feministischen Anspruch des Filmes gerecht, andererseits nicht der feinen Sezierung der Idee der moralphilosophischen Debatte an sich, der präzisen Auseinandersetzung mit grundlegenden Ideen des menschlichen Miteinanders. Letztendlich nutzt Sarah Polley diese Debatte, um präzise Aussagen über das gute Miteinander zu treffen. Das Szenario der Debatte im Raum der Unwissenden ist dabei gerade zu genial, um den gesellschaftlichen Diskurs an sich zu begreifen. Sarah Polleys positioniert die Frauen in eine Art Urzustand nach Rawls. In eine hypothetische Entscheidungssituation, in der die ethischen Grundsätze ihres Handelns bestimmt werden sollen.
Naturrecht
Die Debatte um das Weiterleben der Frauen in der Gemeinschaft lebt von moralischer Intuition, dem Glauben an eine Art Naturrecht und dem Wert der Emotionalität. Die Frauen in dieser Geschichte sind gottesfürchtig – sie glauben an Himmel und Hölle. Werte werden aus einem christlichen Glaubenssystem hergeleitet. Dies bedeutet keineswegs eine befürwortende Positionierung Polleys hinsichtlich religiöser Systeme. Bereits die Rahmenhandlung des Filmes ist eine überdeutliche Systemkritik. Es werden aus diesem Glaubenssystem einerseits Werte des guten Lebens hergeleitet, andererseits werden sie jedoch gleichzeitig geschickt vom Glaubenssystem abgegrenzt und kontrastiert. Was bedeutet es, richtig und gerecht zu handeln? Die debattierenden Frauen ziehen immer wieder religiöse Werte heran – doch was würde es bedeuten, würden jene höheren (gottgegeben) Werte keine Rolle spielen?
Ein Schlüsselmoment ist die Formulierung einer pazifistischen Argumentation aus dem Glaubenskonstrukt. Sie sollten sowohl sich selbst als auch die Männer keiner Gewalt aussetzen, dies wäre nicht im Sinne ihres Glaubens – Pazifismus wäre der höchste Wert. Eine Art Naturrecht wird in diesem Moment absolut entscheidend: Ohne höhere Werte die gottgegeben sind, ließe sich eine grundsätzliche Vermeidung von Gewalt als moralische Position nicht herleiten. Anders gesagt: Durch diesen Schlüsselmoment und der Entscheidung wird eine Art Moral vorausgesetzt, in welcher die Ideen des Guten, Richtigen und Gerechten nicht reinen utilitaristischen und rechtspositivistischen Gedanken entspringen. Dafür braucht es keinen Gott und keinen Glauben. Hier wird direkt die Idee von moralischen Grundsätzen formuliert, die über einfache demokratische Entscheidungsfindungen hinausgehen. Viel mehr folgt daraus in der Handlung des Filmes: Wir müssen gehen, es ist eine moralische Pflicht, ungeachtet des (potenziellen Mehrheits-)Wunsches zu bleiben und sich zu wehren.
Eine Gesellschaft, in der gegenseitig gemordet wird – in der alle Mitglieder der Gesellschaft dies befürworten – kann moralisch falsch sein, obwohl sich kein einziges Mitglied der Gesellschaft dagegen ausspricht. Ohne eine Form des Naturrechts, dem Glauben an höhere Werte, wäre dieser Schluss nicht möglich. Es ist nahezu genial, wie dieses Szenario jenen Gedanken umsetzen kann. Durch die Positionierung dieses Schlüsselmomentes stellt sich Polley einer Gesellschaft entgegen, in welcher nach Fakten geschrien wird, obwohl nach Ideen des guten Miteinanders gesucht werden sollte.
Emotionalität und moralische Intuition
Immer wieder kommt es zu emotionalen Ausbrüchen der jungen Mädchen und Frauen – man könnte fast meinen, Sarah Polley zeichnet Frauen mit veralteten Rollenbildern, gar hysterisch. Hier wird der zweite Punkt Polleys Positionierung der grundsätzlichen gesellschaftlichen Debatte offengelegt: Der Wert von Emotionen. Es ist wichtig, dass die Emotionalität in dieser Debatte eine so große Rolle spielt, insbesondere aus einer feministischen Perspektive:
Dem Vorwurf der (patriarchal formulierten) überemotionalen Entscheidungsfindung von Frauen werden echte Emotionen gegenübergestellt, die einen Einfluss in die Positionierung finden. Der Umgang mit diesen Emotionen ist in der Debatte respektvoll. Im Umgang mit der offenen Emotionalität wird dieser eine Berechtigung gegeben, und dies ist insbesondere im Rahmen der hier formulierten Debattenkritik eine logische Konsequenz. Hier wird deutlich betont: eine Debatte lässt sich nicht nur durch Logik führen.
Die überdeutlichen emotionalen Ausbrüche werden in Polleys Drehbuch sofort mit Einzelaussagen assoziiert, wie etwa: Sollten die Taten der Männer ungestraft bleiben? Immer wieder dringt dabei die Idee der moralischen Intuition durch, das Gefühl, das sich an einer Entscheidung etwas falsch anfühlt, was möglicherweise gar nicht so direkt und konkret formuliert werden kann. In der Konsequenz hat Emotionalität einen moralischen Wert. Gefühle sind für den Diskurs essenziell. Polley zeigt, dass Eigenschaften die ursprünglich zur Diskreditierung von Frauen herangezogen wurden einen grundsätzlichen Einfluss auf die Entscheidungsfindung haben sollten, und grenzt sich damit deutlich von toxisch maskulinen Perspektiven ab (einfach gesagt: der rationale Mann trifft gute Entscheidungen, gefühlskalt und kalkuliert).
Eine Politik der Frauen
Aus diesem Szenario lässt sich grundsätzlich eine Politik der uneingeschränkten Frauensolidarität herleiten. Polley lässt keinen Zweifel: Das Patriarchat ist grundsätzlich schlecht. Sie nutzt die Unschuld junger Mädchen – sie sind förmlich empört, als Zweifel an der Täterschaft oder an der Abkehr vom System formuliert werden. Manchmal sind Dinge eben schwarz und weiß, und Polley macht klar: Es gibt keine andere Perspektive. Wir leben immer noch im Patriarchat. Eine der Frauen schlägt sogar vor, ein eigenes System mit eigenen Regeln an die sich die Männer halten müssten aufzustellen – hin zum Matriarchat.
Männer spielen in diesem Film so gut wie keine Rolle – an verschiedenen Stellen wird ihnen sogar die Teilnahme am Diskurs verweigert. So ist etwa ein Mann der Gemeinschaft Protokollführer, und als er sich zur Ausgestaltung des Prozesses äußern wollte, wurde er unterbrochen – er solle sich in den Prozess nicht einmischen. Ein anderer Mann war der Täter. Und die anderen Männer, eben jene aus der Gemeinschaft, sind jene, die das patriarchale System aufrechterhalten – eben den Jungen ein frauenfeindliches Wertesystem aufdrücken und die Vergewaltiger befreien.
Sowohl musikalisch als auch in der Darstellung von Männern wird in der Mitte des Filmes jedoch ein Bruch gesetzt – mit heiterer Musik nähert sich ein Wagen vom 2010er Zensus. Zwei junge Mädchen rennen zum Wagen und werden von dem Mitarbeiter in den Zensus aufgenommen – eine positive Begegnung. Mit dem musikalischen Kontrast wird die Außenwelt von dem in sich furchtbaren System abgegrenzt. Der Mann, der Protokoll führen darf, und uneingeschränkt auf der Seite der Frauen steht, ist ebenfalls von der Außenwelt: seine Familie wurde von der Gemeinschaft verbannt, als seine Mutter anfing, das System infrage zu stellen. Und auch er wird als durch und durch gutartige Person gezeichnet. Ihm bleibt die Aufgabe die in der Gemeinschaft verbleibenden Jungen als Lehrer auf den richtigen und guten Weg zu führen. Und das, obwohl er grundsätzlich gläubig ist. Eine Art Versöhnung mit der Männerwelt? Funktioniert der Wandel auch mit dem System?
Interessanterweise nutzt Polley eine unnatürliche dunkel gehaltene Farbpalette – alles wirkt, wie aus einer anderen Zeit und einer anderen Welt. Dies ist wichtig: der einfachen Argumentationsstruktur wird somit ein isolierter Raum gegeben, ganz abgegrenzt von unserer natürlichen Welt. Damit lenkt Polley den Fokus geschickt auf das Wesen der übergeordneten feministischen Debatte. Wir befinden uns in einer Art Ideenwelt, die nicht der Realität entspricht, was ermöglicht, jene Gedanken überzeugend freizulegen.
Ein Plädoyer für eine feministische Politik:
Mit einem Weltklasse Ensemble formuliert Polley ein überwältigendes Plädoyer für eine Politik des Vertrauens, der gegenseitigen Inspiration, und vor allem Empathie und Solidarität. Sarah Polley sucht das gute Miteinander in einem faszinierenden Ideenraum und färbt dies grundsätzlich feministisch. Sarah Polleys Women Talking ist ein fulminantes Werk über die Natur menschlicher Entscheidungsfindung.
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