Abteil Nr. 6

Über Liebe und geliebt werden, ein Spagat zwischen zwei, – nein, drei Welten. Klassischerweise provozieren Liebesfilme mit Bruch und Spannung, treiben auseinander was zusammengehört, indem sie ihre Protagonisten in entgegensetzten Welten schreiben (O Romeo, O Romeo…). Sehnsucht und Begierde werden in einfachen Kausalketten gezeichnet: Liebe auf den ersten Blick. Manchmal entbrennt stattdessen ein leidenschaftlicher Kampf um die zunächst unerwiderte Liebe, bis er letztendlich doch entzündet wird: Der Funken, dieser unerklärbare Funken.

Abteil Nr. 6 (Hytti nro 6) ist ein Liebesdrama von Juho Kuosmanen, das im Jahre 2021 in Cannes seine Premiere feierte. Und hier – in dieser kleinen finnisch-russischen Ko-Produktion – geht es um genau jenen Funken. Denn so weit weg sind die romantischen Liebesgeschichten aus Hollywood doch gar nicht von der Realität. Die kalkulierte unkreative Maschinerie hinter billigen und kitschigen Liebeskomödien funktioniert. Sie bedient sich der menschlichen Sehnsucht, nutzt den tiefe Wunsch bedingungslos akzeptiert und geliebt zu werden. Doch brauchen wir dafür die immerzu gleichen Geschichten der Liebe auf Dauerschleife? Sich dieser Sehnsucht zu bedienen ohne dabei tatsächlich bedeutungsvoll zu erzählen wirkt fast wie ein Missbrauch dieser intimen Facette der menschlichen Seele – nicht ohne Grund sind Reaktionen auf kitschig erzählte Romanzen zuweilen gekennzeichnet von heftiger Ablehnung.

Joho Juosmanen verlässt die Konventionen jener Maschinerie und beweist sich stattdessen als Beobachter echter Emotionen: Die reale Liebeswelt ist komplizierter, Gefühle sind differenzierter. Liebe wird begleitet von Emotionen tiefer Ängste. Begierden haben ihren Ursprung in gescheiterten Bindungen und den fürchterlich komplizierten Wirrungen der Seele. Joho Juosmanen destilliert in Abteil Nr. 6 aus dem Kitsch der Liebesdramen die nüchterne Realität der menschlichen Annäherung, sucht in der prallen Realität des Makelhaften einen rohen Diamanten und findet damit Erklärungen für den Funken, der in der Welt von Hollywood schlicht so unerreichbar erscheint, wie die Sterne selbst. Hier wird er zum Greifen nahe. Dabei bedient er sich den gleichen dramaturgischen Spielen des Liebeskitsch, verwandelt ihn jedoch mit leisen und vorsichtigen Tönen in einen glaubwürdigen Prozess:

Abteil Nr. 6 beginnt mit der jungen Archäologie Studentin Laura, die sich in ihrer Naivität selbst bereits in der Liebesgeschichte ihres Lebens sieht. Früh erleben wir sie mit ihrer Liebhaberin Irina, Literaturprofessorin. Bei Irina versammelt sich das russische Bildungsbürgertum. Laura spricht in dieser Gesellschaft den Namen einer russischen Autorin falsch aus, wird korrigiert. Erkennt scheinbar wichtige Zitate nicht – zwar in einer Art Spiel, doch fehlt offenkundig der fundierte Zugang in eine Welt, von der sie so gerne Teil wäre. Sie scheint wichtige Literatur nicht zu kennen, wird vorgeführt – deutlich jedoch ihr Wunsch, dazuzugehören. Nicht ohne Grund bedient sie sich später derer intellektuellen Zitate, um ihren Wunsch zu rechtfertigen, die Petroglyphen in Murmansk zu sehen – tausende Jahre alte Steinmalereien.

Auf der zweitägigen Zugfahrt in die Stadt Murmansk (die zunächst gemeinsam mit Irina geplant war) dokumentiert sie mit ihrer Kamera ihre Reise, nimmt Grußworte für ihre Liebe auf, nutzt jede Gelegenheit bei Halt an Telefonzellen, um Irina zu erreichen, die immerzu ihr freundliches Desinteresse zeigt, stets beschäftigt ist – und ja, so kommt Laura letztendlich zur Realisation: Genauso wenig wie sie in die Welt von Irina gehört, gehört ihr Irinas Herz. Das war ein Spiel, keine Liebe. In ihrem Abteil befindet sich der Bergarbeiter Lhoja – wild, ungestüm, ungebildet. Sie distanziert sich sofort von ihm, indem sie ihre Kopfhörer aufsetzt. Betrunken nähert er sich ihr an, möchte sie zunächst kennenlernen. Er wird übergriffig, sie möchte das Abteil wechseln – doch selbst Bestechungsgeld hilft nicht, die Schaffnerin bleibt stur – sie müsse in ihrem Abteil bleiben.

Letztendlich bleibt sie auf dieser Reise, in jenem Abteil mit Lhoja – und hier entwickelt sich eine Romanze, die so nüchtern und trocken erzählt wird, dass in der Authentizität ein beeindruckendes und glaubwürdiges Zeugnis des menschlichen Miteinander freigelegt wird. Letztendlich findet sich in einer einzigen intensiven Umarmung die Auflösung eines Distanzierungs-Annäherungsspiels, das wir in der Art zwar aus Hollywood kennen, aber in diesen subtilen Farben noch nie gesehen haben. Dann folgen Küsse – ein Schritt zu viel – oder doch nicht? Aus Überforderung von kitschigen Liebesgefühlen und Sehnsüchten wird mit der echten Angst gezeichnet, jene vor eigenen Emotionen, vor Annäherung: Gefühle der Minderwertigkeit, und die daraus resultierende Begierde; der Wunsch akzeptiert zu werden, schlicht miteinander zu sein.

Die Geschichte der bedingungslosen Liebe erhält dabei neue Bedeutungen und Töne, die im Gegenzug zur herkömmlichen kommerziellen Liebesdudelei im Kino differenziert und tiefgreifend wirken. Abteil Nr. 6 ist voller tiefer und echter Emotionen. Was bedeutet es ein Mensch zu sein? Was bedeutet es jemanden kennenzulernen? Was bedeutet es jemanden zu lieben? Was bedeuten Sehnsüchte? Was sind echte Gefühle des Zusammenseins, der Anziehung, der Ablehnung – was bedeutet es dazuzugehören, akzeptiert und respektiert zu werden? Ich möchte jedem ans Herz legen, der Antworten sucht, den Tönen dieses Filmes zu lauschen – und sucht nicht jeder von uns Antworten auf diese Fragen?

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