Toy Story 4

Toy Story 4 heißt im Deutschen „A TOY STORY: ALLES HÖRT AUF KEIN KOMMANDO“ – eine zweifelhafte Umbennung, eine Distanzierung von einer Reihe, die bisher in vielen Aspekten zu einer tiefen Auseinandersetzung mit Konzepten des menschlichen Miteinanders glänzen konnte. Eine Marketing-Entscheidung, die ich, wie so oft, im deutschen Kino nicht so recht verstehe. Natürlich könnte man maulen und beklagen, dass Disney Pixar ein Franchise weiter ausschlachtet statt neue Ideenwelten zu erschaffen. Doch sagen wir es mal so: Die trauen sich etwas, dort, bei Disney Pixar. Doch trauen sie sich genug?

Wir werden wieder mit den Spielzeugen konfrontiert, die uns bereits in den letzten Jahrzehnten in profunde Gefühlswelten brachten. Ich erinnere mich an diverse Szenen, die mich zu Tränen rührten – sie erfüllten die Seele und zeigten zugleich, was es bedeutete, erwachsen zu werden. Was es bedeutete, einsam zu sein. Was es bedeutete, nicht auf eine Art und Weise geliebt zu werden, wie man es sich wünschte.

Dieses Mal steht wieder ein spezielles Konzept des Mensch-seins deutlich im Vordergrund, das für ein junges Publikum geeignet aufgearbeitet wurde. Was bedeutet es, eine Identität zu haben – was bedeutet es, eine Rolle in der Gesellschaft innezuhaben? Wie wir bereits im dritten Teil der Geschichte erlebten, haben die Spielzeuge ein neues Zuhause gefunden: Bonnie. Ein junges Mädchen, das sich im Kindergartenalter befindet.

Die Aufgabe eines Spielzeugs: Lieben und geliebt werden!

Bereits in frühen Szenen wird ein erster, tiefgründiger Konflikt eröffnet. Es handelt sich um einen grundsätzlich sozialen Konflikt, der sich in verschiedenen Konstellationen der „echten“ Welt widerfindet und in diesem Spielzeuggewand wunderbar zum Vorschein kommt. Plötzlich verschieben sich entsprechende Präferenzen: Jessie, das jodelnde Cowgirl, ist in der Beliebtheitsskala von Bonnie ganz oben, während Cowboy Woody kaum Beachtung erhält.

Eine Rollenverschiebung, die Kinder bereits bei jungen Geschwisterkindern erleben müssen; eine Teilung der Aufmerksamkeit, das Erleben einer niedrigeren Priorität in einem komplexen, sozialen Geflecht. Das gleiche betrifft den Umgang mit Freundschaften. Jeder wird erlebt haben, dass Menschen mit der Zeit an Bedeutung gewinnen und verlieren und wird gelernt haben, dass dies ein natürlicher Prozess ist.

Bereits im ersten Teil von Toy Story war dieser Konflikt vordergründig: Dort war Buzz Lightyear das „neue Spielzeug“ und erhaschte sich die komplette Aufmerksamkeit des Kindes Andy, löste damit Woody in der Rolle als Lieblingsspielzeug ab: „Once the astronauts went up, children only wanted to play with Space Toys.“ Letztendlich wurde der Konflikt aufgelöst, indem diese Verschiebung in der Präferenz lediglich eine vorübergehende Phase war – später wurden sie gleichermaßen geliebt. Sie teilten sich von nun an die Rolle als gleichberechtigte Lieblingsspielzeuge.

Im zweiten Teil wurde „das Kind“ von Cowgirl Jessie erwachsen; Jessie wurde dabei vergessen und ausgesetzt. Sie musste lernen, dass sie von einem „neuen Kind“ ebenfalls die Liebe erhalten konnte, die sie so sehr vermisste. Ihre Position, nie wieder eine derartige Beziehung einzugehen um nicht verletzt zu werden, hatte sie letztendlich verworfen.

Jessie: Let me guess. Andy’s a real special kid, and to him, you’re his buddy, his best friend, and when Andy plays with you it’s like… even though you’re not moving, you feel like you’re alive, because that’s how he sees you.

Woody: How did you know that?

Jessie: Because Emily was just the same. She was my whole world.

Im dritten Teil wurden die Spielzeuge allesamt – versehentlich – an eine Kindertagesgruppe gespendet. Doch gab es dort den Teddybären Lotso, der wegen dieser Form der menschlichen Zurückweisung (er wurde schlichtweg durch eine andere Puppe ersetzt) eine Bösartigkeit entwickelte und es niemandem mehr vergönnen wollte, geliebt zu werden.

Und letztendlich komme ich zum Schluss: Eine Transformation dieser Emotionswelten mittels lebender Spielzeuge ist ein hervorragender Weg, diese sozialen Konflikte kindgerecht (und erwachsenengerecht!) auszuarbeiten. Und ja: Toy Story 4 trägt zum Glück dazu bei, entsprechende Gedankenstränge geschickt und differenziert weiterzuführen.

Die eigene Identität: Wer bin ich und wer möchte ich sein?

Im vierten Teil der Serie erhält jene Idee nämlich eine weitere Dimension: Woody hinterfragt seine Rolle als Spielzeug und damit grundsätzlich seine eigene Identität. Er bedauert nicht bloß die Zurückweisung, formuliert nicht, dass er deprimiert sei. Stattdessen definiert er sich neu. Während beim Teddybären Lotso entsprechende Gedanken herbe, negative Auswirkungen hatten, erlebt Woody ein psychologisch positives Wachstum. Dieses Wachstum entwickelt sich nach und nach. Es ergibt sich ein Prozess, der während des Filmes dargelegt wird. Und dies in zweierlei Hinsicht.

Woody erkennt bereits zu Anfang des Filmes, dass er als Spielzeug eine gewisse Rolle im Leben eines Kindes zu erfüllen hat. Ein Spielzeug sei eine Art Anker in schwierigen Zeiten, Beschützer, eine Art Partner In Crime. Er sieht es daher als wichtige Aufgabe an, dass Bonnie im Kindergarten eine Spielzeugbegleitung haben sollte; und zwar, obwohl ihre Eltern dies explizit verboten hatten. (Sie dürfe kein Spielzeug mitnehmen, sie sei ja schon groß.) Dort, im Kindergarten, er schlich sich in ihren Rucksack, macht Woody eine außerordentlich wichtige Erfahrung: Bonnie ist selbständig in der Lage, sich aus einem Plastik-„Göffel“ (eine Mischung aus Gabel und Löffel) ein Spielzeug zu basteln, das sie in der emotional aufbrausenden Zeit im Kindergarten zur Seite stehen sollte. Zufrieden erkennt Woody dies, definiert seine Rolle im ersten Schritt wie folgt:

Bonnie schaffte es schon ganz alleine; er müsse nicht mehr geliebt werden, um ihr beiseite zustehen, und eine Rolle zu erfüllen – er müsse sie lediglich beschützen. Und die Rahmenbedingungen wurden nun schlichtweg von einem Göffel gestellt – dieser wäre nun ihr emotional wichtigster Begleiter. Er erkennt dies und machte sich den Erhalt dieser Verbindung zur Herzensangelegenheit. Selbstlos, möchte man meinen: Doch dahinter steckt ganz eindeutig die Motivation, selbst nicht an Bedeutung zu verlieren. Der Schluss, Bonnie würde ihn nicht „gebrauchen“, kommt ihm schlichtweg nicht in den Sinn. Seine eigene Identität und Rolle sind weiterhin schlichtweg stark an Bonnie gekoppelt, und es ist klar: Genau dies ist ein psychologisches Spannungsfeld.

Plastik-Göffel: Ab in den Müll mit mir!

Nun, es handelt sich bei jenem Göffel um einen Plastikgöffel  – plötzlich, mit Knetmund und Fäden als Arme und Beine, kann er sich äußern und bewegen. Und erhält ganz nebenbei ein Bewusstsein. Überwältigt von der eigenen, neuen (gesellschaftlichen) Rolle findet er einen starken Antrieb: seiner ursprünglichen Rolle als Plastik-Göffel gerecht zu werden. In ein, zwei (drei, vier zu vielen Szenen) verspürt jener Göffel den starken Drang, in den Müll geworfen zu werden. Er bewegt sich immerzu selbst in die Richtung von Mülleimern, springt hinein – und wird letztendlich immer wieder davon abgehalten. Dies sei seine Bestimmung, er definiert sich als Einweg-Besteck und sucht nach dem Gebrauch die Geborgenheit im Müll.

„I am not a toy, I was made for soups, salads, maybe chili, and then the trash. Freedom!“

Woody hält ihn natürlich davon ab: Dabei ergibt sich ein witziger, aber durchaus interessanter Austausch zwischen den Beiden: Welche Bedeutung trägt für den Göffel seine bisherige Rolle – und warum möchte er diese Rolle weiterhin erfüllen? Auf jeden Fall macht es sich Woody zur Aufgabe, den Göffel förmlich dazu zu zwingen, als Spielzeug von Bonnie erhalten zu bleiben. Ein zweifelhafter Prozess. Woody kann in zweierlei Hinsicht nicht loslassen: Selbst in brenzligsten Situationen möchte Woody den Göffel in seine Rolle als Spielzeug pressen. Gleichzeitig sieht er die Verantwortung dafür vollständig bei seiner eigenen Person; hinterfragt nicht, ob Bonnie diesen Göffel tatsächlich benötigt – und damit, ob er tatsächlich wichtig für Bonnie sei.

Eine alte Liebe… Porzellinchen.

Bei einer Rettungsaktion (der Göffel wurde entführt!) steht sie plötzlich da: Porzellinchen. Bereits in früheren Teilen wurde eine romantische Verbindung von Woody zu ihr immer wieder angedeutet. Doch irgendwann wurde sie schlichtweg weggegeben. Sie hatten sich aus den Augen verloren. Interessant ist diese Konfrontation nicht deshalb, weil sich zwei Liebende wiederfinden. Interessant ist sie, weil Porzellinchen ein neues Lebenskonzept als Spielzeug vor Woodys Augen führt; ein Konzept, das sie in den letzten Jahren selbst gelebt hat. Als „besitzerloses“, freies Spielzeug sei sie mit einer Gruppe weiterer Spielzeuge in der Lage, ein komplett selbständiges Leben zu führen – sich auf öffentlichen Spielplätzen zu positionieren, damit Kinder mit ihnen spielen könnten – um dann wieder in der Öffentlichkeit abgelegt zu werden, bereit für die nächsten Kinder.

Für Woody führt diese Konfrontation zum nächsten Schritt in der Definition der eigenen Identität: Wäre diese Lebensgestaltung eine Alternative für ihn? Sich von der Idee eines „festen Kindes“ zu trennen, ein durch und durch freies oder befreites Leben zu führen? Dabei wird ein weiterer Punkt aufgemacht, der diese Frage überaus komplex gestaltet: Sollte sich Woody für eine Lebensrealität mit Porzellinchen entscheiden, oder gemeinsam mit seinen Freunden und Bonnie leben – wenngleich er dort seine Bedürfnisse nicht ausreichend befriedigt sieht?

Es handelt sich um eine spannende Entscheidung, eine schwere Entscheidung, und beide Lebenswelten scheinen moralisch gleichgewichtig für ein „gutes Leben“ geeignet zu sein. Es sind Fragen des Loslassens, die in den Vordergrund geraten – die Idee, ein bisheriges Lebenskonzept über Bord zu werfen und die eigene Rolle in der Gesellschaft neu zu definieren. Doch wird auch die Bedeutung einer Familie, (eben einer Spielzeugfamilie; eines zugehörigen Kindes), hinterfragt.

Spielzeuge scheinen ein Grundbedürfnis zu haben: Dass mit ihnen gespielt wird. Es handelt sich um nichts weiter als um die Idee, dass sich ein Mensch eine Zugehörigkeit wünscht; eben, dass Freunde und Verwandte einem hin- und wieder ihre Aufmerksamkeit schenken. Dass sie einem damit das Gefühl geben, selbst ein geliebter Mensch zu sein. Beim Menschen ergeben sich dabei verschiedene Persönlichkeitstypen, die in diversen Sprachen der Zuneigung miteinander kommunizieren. Das Bedürfnis jener Zuneigung variiert im Ausmaß – und jeder Mensch entwickelt dabei individuelle Präferenzen. Dies hängt mit genetischbedingten Persönlichkeitsvariablen wie der Intro- und Extraversion zusammen – aber auch mit Unterschieden in der Sozialisierung und Erziehung. Ein Punkt, der in der Welt von Toy Story bislang kaum aufgegriffen wurde. Für eine differenzierte Wahrnehmung eines sozialen Geflechts und der eigenen Identität darin ist er jedoch unabdingbar. Mit Toy Story 4 wurde dieser Punkt wunderbar aufgegriffen.

Fazit

Hin und wieder werden Fragen des Bewusstseins aufgeworfen; auch gibt es wieder Kontrahenten und Bösewichte, die in diesem Abenteuer lauern. Doch diese Ideen sind entweder zu konventionell oder werden lediglich angekratzt, um ihnen eine übergeordnete Bedeutung anzumessen – daher wurden sie in dieser Besprechung nicht weiter beachtet. Doch die Auseinandersetzung mit der Identitätsfindung in der Gesellschaft erhält in diesem Film einen großen Raum und wird auf großartige Weise in dieses Spielzeugabenteuer eingeflochten. Dies wird auf verschiedenen Ebenen diskutiert; dabei scheut sich Disney Pixar nicht, sozial vorgegebene Rolle, wie die des Göffels, ganz grundsätzlich zu hinterfragen. Man könnte also sagen: Sie trauen sich etwas. Und wieder einmal fragen wir uns, was das für uns bedeutet. Obwohl wir doch bereits erwachsen sind.

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