Captain Fantastic
Die Moral von der Geschichte ist ein untrennbarer Bestandteil der Deutung von Filmen. Mit ganz und gar offensichtlichen oder unter Umständen subtilen Wertungen legen Regisseure ihre Positionen und Handlungsanweisungen dar. Man könnte meinen: Dies sei der bedeutungstragende Kern, der durch ein emotionales Fundament getragen werden müsste, um argumentativ wirksam zu sein. Wie kann eine Position glaubwürdig sein, wenn sie uns völlig kalt lässt? Was uns kalt lässt, verliert unsere Aufmerksamkeit. Dies bedeutet auch, dass wir uns nicht mit jenen Gedanken beschäftigen werden.
Der Filmkünstler destilliert aus den vorzutragenden moralphilosophischen Positionen ein komplexes Konstrukt aus Gefühlen, die letztendlich beim Kinogänger bewirken, dass sie sich in jene Situationen hineinversetzen können und selbige bewerten. Viele spezialisierte Themenkomplexe wecken das Interesse der Zuschauer – dabei, so scheint es, seien insbesondere Positionen zu Mord, Gewalt und Verbrechen, ebenso zu Liebe, Partnerschaft und Beziehung – Triebfedern von bedeutsamen und populären Filmen.
Die Werke einiger Regisseure erarbeiten jene Fragen jedoch auf einer allgemeineren Ebene: Sie wirken wie eine differenzierte Ausarbeitung der Frage des „guten Lebens“. Wie sollte ein Leben geführt werden? Wie sollte der eigene Lebensweg gedeutet und bewertet werden? Was verleiht dem Leben Sinn und Bedeutung? Welche Lebensformen sind legitim? Was ist das „gute, richtige Leben“?
Captain Fantastic (Seit dem 18. August 2016 im Kino)
Regisseur und Drehbuchautor Matt Ross untersucht in diesem Werk das Leben eines Vaters und seiner sechs Kinder, die isoliert in der Wildnis großgezogen werden. Zu den Lehren des Philosophen gehört eine Verbundenheit von Natur, Geist und Körper. Als Lehrer und Meister der Kinder und Jugendlichen legt der Vater Wert auf die sportliche Betätigung seiner Kinder, lehrt ihnen das Jagen und erwirkt die Naturverbundenheit mit Ritualen des Erwachsenwerdens.
In Deutschland wäre solch ein Lebens- und Erziehungsentwurf nicht möglich. Die Schulpflicht – unter anderem – fungiert als Kontrollmechanismus, der einerseits die Integration von Kindern und Jugendlichen in der Gesellschaft sichern soll, andererseits die körperliche und geistige Entwicklung maßgeblich lenkt. In den vereinigten Staaten von Amerika jedoch ist ein grundlegender Wert die Freiheit des Menschen. Zu dieser Freiheit gehören eben auch Konzepte der selbstbestimmten Erziehung und des familiären Zusammenlebens. Bildung ist Sache der Staaten – somit existiert in einigen Staaten die Schulpflicht, in der Mehrzahl der Staaten ganz im Sinne des angeführten Gedankens jedoch nicht.
Zunächst scheinen die Kinder und Jugendlichen in einer perfekten Welt zu leben: Es wird nicht in Frage gestellt, ob der Vater die entsprechenden Kompetenzen besäße, um die Kinder selbständig großziehen zu können. Wahrlich, solch ein Erziehungs- und Lebenskonzept kann funktionieren! Der Vater wird als intellektueller Geist präsentiert, der seinen Kindern die Ideen der Originalgenies der Weltgeschichte nahebringt.
Zur differenzierten Untersuchung eines jenen Lebenskonzeptes wird die Geschichte, als die Mutter der Kinder verstirbt – sie begeht Suizid. Die Partnerin des Philosophen war schon seit einigen Monaten in einer Psychiatrie untergebracht. Er scheut sich ebenfalls nicht davor, den Kindern die Wahrheit zu sagen. Ihnen ist bewusst, was es bedeutet, psychisch krank zu sein. Selbst neurobiologische Zusammenhänge können von den Jüngsten der Familie vorgetragen werden.
Als die Eltern der verstorbenen Mutter die buddhistisch-geprägten Wünsche ihres Kindes nicht beherzigen wollen, und stattdessen in konventionellen Beisetzungstraditionen verharren möchte, fühlt sich der Protagonist unserer Geschichte gezwungen einzugreifen: Captain Fantastic möchte, ganz in ihrem Sinne, dass die Asche ihrer Mutter in einer öffentlichen Toilette herunter gespült wird, nachdem die Angehörigen in einem Fest der Lebensfreude bunt-gekleidet gesungen und getanzt haben.
Und trotz der offensichtlich hohen Kompetenz des Vaters werden Kritikpunkte des Regisseurs und Drehbuchautors Matt Ross laut: Zwar positioniert er sich nicht eindeutig als Befürworter oder Gegner eines solchen Lebenskonzeptes, doch zeigt er geschickt jene gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Probleme auf, die hinter einem solchen Lebenskonzept stecken.
Sei es der Älteste, der mit der ersten Konfrontation mit einer jungen Dame völlig überfordert ist und jener sogar am gleichen Abend vor ihrer Mutter einen Heiratsantrag macht. Sei es die Mittellosigkeit, die sich im abenteuerlichen Diebstahl im Supermarkt zeigt oder gar der normative Zusammenstoß mit der spießigen Familie der Schwester des Protagonisten und ihren Erziehungsmethoden.
Letztendlich lässt der Regisseur die Bewertung jenes Lebenskonzeptes bei uns und führt uns jene Probleme vor Augen, die dahinter stecken. Gleichzeitig vergisst er nicht, eine Kritik an das „normale“ städtische Leben zu formulieren, was sich insbesondere in der Charakterisierung der Familienmitglieder mütterlicher Seite niederschlägt.
Der vermutlich spannendste Konflikt ist jener der Selbstbestimmung der Kinder, und gerade hier finden die stärksten Argumente des Regisseurs ihren Platz – denn ihre Entscheidungen gegen das Lebenskonzept des Vaters sind jene, die den Film letztendlich dramaturgisch zum Leben erwecken. Die Frage nach dem guten Leben wird mit der Selbstbestimmung der Kinder beantwortet. Hier stecken die tiefgreifenden Emotionen, die ihren Ursprung in den urmenschlichen Motiven finden. Aber: Wurden sie möglicherweise erst durch den Philosophen der Selbstbestimmung fähig?