Mustang
Die in Ankara geborene Regisseurin Deniz Gamze Ergüven liefert mit ihrem ersten Spielfilm den französischen Beitrag für die kommende Oscar-Verleihung. An der Oberfläche wirkt ihr Werk wie eine klare, gerichtete Kritik. Betrachtet wird die Stellung der Frau in der muslimischen Welt. Sie wird aus der Perspektive junger Mädchen diskutiert, die den religiösen und kulturellen Vorstellungen ihrer Familie gerecht werden müssen. In der Tiefe lauert jedoch der freigelegte Kern bedeutender Konzepte der Menschlichkeit, die das wahre Talent der Regisseurin offenbaren.
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An dieser Stelle plante ich, den Inhalt zusammenzufassen. Den dazugehörigen Text habe ich bereits formuliert; die Passagen sind geschrieben. Eine inhaltliche Auseinandersetzung wird dem Stoff jedoch nicht gerecht. Die Inhalte seien zu klischeehaft, würde man meinen – die Handlung wäre zu einfach, um für eine entsprechende Kritik an der muslimischen Kultur geeignet zu sein. Dieser Einwand ist zutreffend: Für eine fundierte Auseinandersetzung mit Religion, Tradition und Kultur fehlt eine differenzierte Erzählung. Darum geht es jedoch nicht. Es geht um das Konzept der Freiheit, das durch Ruhe und Sensibilität in dieser Geschichte seine Entfaltung findet.
Alles beginnt ganz harmlos: Die jungen, türkischen Geschwister aus einer eher ländlichen Gegend spielen zum Ende des Schuljahres mit Jungs aus ihrer Schule. Sie toben an der Küste; setzen sich auf die Schultern der Jungen und haben Spaß. Die jungen Mädchen werden erwachsen: Aus Fremdbestimmung wird Selbstbestimmung. Regisseurin Ergüven zeichnet die fünf Schwestern voller Lebensfreude als geschlossene Einheit, was jene Gefühle der Geschwisterliebe und des Zusammenhalts einfängt. Es gelingt ihr, die unbekümmerte Natur Heranwachsender präzise freizulegen; sie präsentiert diese in Reinheit und bettet sie in eine liebevolle Geschwisterdynamik ein.
In der Nachbarschaft wird über die Mädchen geredet – wie konnten sie sich bloß derartig körperlich mit den Jungen vergnügen? Die verwaisten Geschwister leben zusammen mit ihrer Großmutter und ihrem Onkel, die hinsichtlich jener Ereignisse erschüttert sind. Sie seien erwachsen, meint ihr Onkel, was passiert ist, sei unanständig. Aus dem Zuhause der Mädchen wird eine Hausfrauenfabrik: Der Kontakt zu Jungs bleibt untersagt. Jetzt geht es um Anstand. Bald wird geheiratet und das geht den Mädchen gehörig gegen den Strich.
Durch die Verheiratung einzelner Mädchen handelt es sich um einen massiven Eingriff in die etablierte Einheit. Zwei verlassen ihr Heim und beginnen ein Leben mit ihren Ehepartnern: Sie verlieren ihre Unschuld. Regisseurin Ergüven macht ein eindeutiges Statement, indem sie die natürlichen Wünsche und Motive der jungen Mädchen herauskristallisiert. Aus den Mädchen werden Widerstandskämpferinnen.
Der sensible Umgang mit Kindern wird in der Authentizität der Darstellung deutlich. Die emotionale Tiefe des Werkes liegt im Aufbruch jener Einheit – die Mädchen gehören schließlich zusammen. Das Talent der Regisseurin liegt darin, die Essenz des Freiheitsstrebens zu extrahieren und feinfühlig zu implementieren. In einem eindrucksvollen Plädoyer wird der Zuschauer mit dem Wert der Selbstbestimmung konfrontiert. Das Schicksal der Geschwister wird die Erinnerungen prägen: Selten wurden die Motive von Freiheitskämpfern so überzeugend dargelegt. In „Mustang“ erfahren wir von Konzepten der Geschwisterliebe, der Selbstbestimmung und dem Kampf um jene. Ein grandioser Auftakt einer jungen Regisseurin.
Bild: Aus „Mustang“ (2015), Fünf Schwestern ein letztes Mal vereint © Weltkino