Hänsel und Gretel im Thalia Theater Hamburg
Angst, Armut, Kannibalismus und Tod – die im Märchen Hänsel & Gretel aufgegriffenen Themen sind provokant. Mit Liedern von Till Lindemann, dem Frontmann der Rock-Maschinerie Rammstein, bekommt das schaurige Märchen der Gebrüder Grimm im Hamburger Thalia Theater nun endlich den passenden Soundtrack.
Das Märchen
Die Geschichte vom Geschwisterpärchen Hänsel und Gretel und der bösen Hexe gehört zu den bekanntesten Grimm‘schen Märchen. Die zwei Kinder Hänsel und Gretel werden von ihren Eltern im Wald ausgesetzt, weil es nicht mehr genug Essen für die ganze Familie gibt. Das Geschwisterpaar verirrt sich im Wald. Als der Hunger beinahe nicht mehr auszuhalten war, finden sie sich am Haus der Hexe wieder. Die Hexe macht Gretel zur Dienstmagd und mästet Hänsel in einem Käfig, um ihn schließlich im Ofen zu braten und anschließend essen zu können.
Transformation ins Heute
Das estnische Regieduo Ene-Liis Semper und Tiit Ojasoo gibt dem Märchen-Klassiker einen modernen Anstrich und verziert das Stück zusätzlich mit einem ordentlichen Schwung Gesellschaftskritik. Die Eltern von Hänsel und Gretel schicken Hänsel und Grete nämlich in ihrer Variante nicht in den Wald, um selbst nicht zu verhungern. Nein, sie schicken sie in den Wald, weil sie sich selbst nicht genügend verwirklichen können und die Kinder ihrem eigenen Leben im Weg stehen. „Wo können wir sparen?“, fragt der Vater die Mutter. Beim Ski-Urlaub? Bei den beiden Autos? Beim Fitness-Center? Nein, „natürlich“ bei den Kindern. Und als Hänsel und Gretel dann im Hexenhaus stranden, darf der Seitenhieb auf die Zucker-und Fettindustrie natürlich auch nicht fehlen. Wobei der Begriff Seitenhieb hier nicht wirklich ausreicht. „Ich esse, esse, stopf mir alles in die Fresse“, singt die Hexe, überragend gespielt von Björn Meyer, zusammen mit Till Lindemann im Song „Allesfresser“. Lindemann kommt dabei die Rolle des Phantoms bei, die die Regisseure ihm ins Stück geschrieben haben. Und wie es sich für ein Phantom gehört, ist Lindemann tatsächlich fast unsichtbar und erscheint nur über die Musikboxen und die riesige Leinwand als singender Erzähler. Seinen großen Auftritt hat Lindemann aber dennoch, als er sich am Ende des erstens Aktes stilecht bis zum Erbrechen vollfrisst.
Die Musik
Till Lindemann ist nicht nur Sänger der Band Rammstein, er hat auch ein eigenes Soloprojekt zusammen mit dem befreundeten Musiker Peter Tätgren ins Leben gerufen: Die Band Lindemann. 2015 brachte sie ihr erstes Album raus. Und für Hänsel und Gretel setzte sich das Musiker-Duo an neue Songs. Für 2019 ist das zweite Album von Lindemann angekündigt, auf dem auch die Songs aus dem Theaterstück enthalten sein sollen. Ob das Album ein Erfolg wird, bleibt abzuwarten. Fest steht aber bereits: Hänsel & Gretel profitiert enorm von der musikalischen Untermalung Lindemanns. Kein anderer Musiker Deutschlands hätte die Boshaftigkeit des Stückes wohl so gut umsetzen können wie der Rammstein-Frontmann.
Kritik
Hänsel und Gretel schweigen im kompletten ersten Akt. Gretel sagt auch im zweiten Part nur einen Satz. Das erscheint erst mal ungewöhnlich, stellen die beiden Figuren doch die Hauptrollen dar. Dafür ist ins Märchen eine zweite Mär eingebettet und so drängen die drei Charaktere Maus, Vogel und Bratwurst sich während des Stückes immer mal wieder in den Vordergrund. Leider verliert das Stück zum Ende des zweiten Aktes an Fahrt und wird sehr langatmig. Diese Langatmigkeit wird aber einfach ins Stück integriert. So fragt Hänsel einfach gelangweilt ins Publikum: „Ist das auch bald mal vorbei hier? Ihr wollt doch auch nach Hause oder nicht?“. Er schaut auf die Uhr, summt den Refrain von Last Christmas. Absurd. Aber irgendwie auch einfach anders und durchaus interessant.
Fazit
Ein Weihnachtsmärchen für die ganze Familie ist Hänsel & Gretel definitiv nicht. Aber es ist auch kein Stück nur für Fans von Till Lindemann. Die Musik ist zwar in der Tat ein wichtiges Element des Stückes. Aber gerade Freunde des etwas derberen Humors dürften in Hänsel & Gretel auch fernab von Lindemanns Gesang voll auf ihre Kosten kommen.