Nick Dear’s Frankenstein (2011)

Regisseur Danny Boyle (Slumdog Millionaire, 2008) leitet in einer fantastischen Theateradaption des zweifellosen Klassikers „Frankenstein“ (1818) unsere Herzen und Hirne. Nick Dear’s „Frankenstein“ (2011) ist eine durch intensive Emotionen geführte Konfrontation mit Konzepten des Menschseins. Diese grundsätzlich in Frankenstein (1818) eingeführten Themen vermenschlicht Boyle geradezu perfide mit dem Mittel des hervorragenden Schauspiels: Die Leitfiguren (Frankenstein & Die Kreatur) des im Royal National Theatre uraufgeführten Stücks wurden durch Benedict Cumberbatch und Johnny Lee Miller verkörpert – alternierend. Ich hatte das Glück, dieses Stück 200 Jahre nach Veröffentlichung des Romans auf der Kinoleinwand mit Benedict Cumberbatch als Kreatur und Johnny Lee Miller als Dr. Frankenstein zu sehen.

Eine Geburt

Die Theateradaption (geschrieben von Nick Dear) unterscheidet sich in einem Punkt wesentlich von der Romanvorlage von Mary Shelley. Das Theaterstück wird aus der Perspektive der Kreatur erzählt, womit sich der thematische Schwerpunkt verändert. Bereits in der ersten andauernden Szene beobachten wir den spektakulären Urknall des Lebens: Die Kreatur durchbricht eine mit Adern durchsetzte Membran; wird geboren. Gleichzeitig leuchtet eine Schar an Lichtern an der Decke des Theatersaals in vollster Intensität, wir werden geblendet. Die Kreatur beginnt seinen überwältigen Aufstieg aus der Höhle des Unwissens, zu welchem er aufgrund seines menschlichen Nervensystems befähigt ist. Benedict Cumberbatch rekelt und kriecht und keucht durch den rötlich beleuchteten Raum. Wenn die Kreatur seine ersten Schritte ins Leben setzt, erinnern die primitiven Laute und Schreie erschreckend an jene von langsam dahinscheidenden Personen.

Danny Boyle hat in seiner Adaption erfolgreich den ersten Schnitt gesetzt. Er erzeugt eine diffuse, emotionale Reaktion, gar ein Gefühl der Entfremdung. Durch die Dauer der Szene wünscht man sich förmlich, die Situation würde sich auflösen. Es handelt sich um ein unangenehmes Gefühl, und somit um eine erste Konfrontation mit der eigenen Gefühlswelt. Thematisch zeichnet Boyle dabei bloß eines: Den Kreis des Lebens. Es ist kein freudiges Ereignis, das wir beobachten, jedoch ein grundsätzlich Natürliches. Plötzlich: Dr. Frankenstein wird mit seiner Schöpfung konfrontiert, schockiert verstößt er das Wesen und entzieht sich selbst der Verantwortung. Sein Handeln ist falsch, sagt der moralische Kompass ganz deutlich, doch unsere diffusen Emotionen der Kreatur gegenüber verschleiern unsere Bewertung seines Handelns mit einem undurchsichtigen Nebel.

Eine überwältigende Schönheit

In kürzester Zeit erlernt die Kreatur das Laufen, unterscheidet sich in jener motorischen Aufgabe jedoch auffällig vom erwachsenen Menschen. Er schleift seinen Körper in beängstigend krummen Posen durch die Straßen von Ingolstadt, wirkt zerbrechlich. Seine erste menschliche Konfrontation ist eine überaus beunruhigende: Als eine Dame von einem Mann unsittlich behandelt, sogar attackiert wird, ist die Kreatur in der Lage den Täter zu vertreiben. Als die Dame jedoch das Gesicht der deformierten Kreatur erblickt, schreit sie auf, voller Angst. Bewohner eilen zur Hilfe, vertreiben die Kreatur.

Eine der emotional intensivsten und durch und durch herzerwärmendsten Szenen des Stückes folgt: Am Morgen erfährt die Kreatur zum ersten Mal die sinnliche Welt der Morgendämmerung. In jener perfekt inszenierten Szene setzt Danny Boyle den zweiten Schnitt und kommt somit der Natur des Menschen ein Stück näher. Reaktionen der Kreatur sind bestimmt durch einen Sinn der Ästhetik, einer durchdringenden Liebe zur Natur, einer sichtlichen Neugier. Konzeptuell ist diese Herangehensweise genial: Danny Boyle reichert seine Demonstration des Menschseins kontinuierlich an, macht sie mittels der empathischen Reaktion des Zuschauenden evident. Die Intensität der eigenen Emotionen unterstreicht bemerkenswert, wie wahrhaftig jene Themen mit dem Selbst verbunden sind.

Eine Eskalation der Oberflächlichkeit

Jener Sinn für Ästhetik wird in der zunächst positivsten Begegnung der Kreatur untermauert: Als er ein Musikstück des blinden De Lacey hört, wird die Kreatur neugierig. Die Kreatur schreitet ungefragt in eine Hütte – der alte De Lacey geht so zunächst von einem Einbruch aus; der Einbrechende solle alles an sich nehmen, doch ihn unversehrt lassen. Doch De Lacey erkennt schnell, dass es sich nicht um einen Einbrecher handelt.

Es entwickelt sich eine interessante Auseinandersetzung, in welcher der blinde Lacey als Lehrmeister das Moralverständnis der Kreatur formt. Er lehrt ihm das Lesen, beschreibt seine eigene Weltsicht und Philosophie. Der nächste Schnitt Danny Boyles folgt: Es entsteht sichtlich eine Art Freundschaft zwischen der Kreatur und dem alten Mann, der mit seinem Sohn und der Partnerin dessen in jener Hütte haust. Das Pärchen wundert sich über getane Arbeit, etwa gehacktes Holz, deren Ursprung in den Taten der Kreatur liegen. Die Kreatur wird als soziales Wesen gezeichnet, begründet in einer platonischen Freundschaft zum Blinden, einer selbstlosen Hilfsbereitschaft und einer ungemeinen philosophischen Tiefe der eigenen Gedanken: Die Kreatur beginnt, die Welt zu hinterfragen, beschäftigt sich mit Themen der Logik. Die Kreatur beginnt zu träumen, sehnt sich nach einer Partnerin, welche das gleiche, entstellte Schicksal teilt.

Gleichzeitig demonstriert die Kreatur eine Angst der Konfrontation, ist sich seiner eigenen Gestalt und Wirkung bewusst. Vehement verweigert sich die Kreatur der Begegnung mit dem jungen Paar, doch sein alter Freund besteht auf genau jenes Treffen. Eines Abends, als das Pärchen heim kommt, hält der alte Mann die Kreatur, verspricht, dass es sich um gute Menschen handeln würde, dass sie die Kreatur akzeptieren würden. Dieses Versprechen konnte der alte Mann nicht einhalten: Es kommt zur Eskalation. Sein Sohn vertreibt die Kreatur mit Gewalt, sowohl er, als auch seine Partnerin äußern ihre tiefe Abscheu. Konzeptuell versteht die Kreatur das Konzept der Rache; setzt dieses um, indem er die Hütte in Brand setzt und somit die Familie umbringt. Für den Zuschauer handelt es sich um ein sehr beklemmendes Ereignis, das grundsätzlich einer moralischen Bewertung der Kreatur selbst entzogen zu sein scheint. Danny Boyle ist in der Lage eine differenzierte Sicht auf die Tat und das Monster emotional herauszuarbeiten; sie wortwörtlich im Zuschauer zu erwecken.

Eine Schöpfung

Ist Frankenstein Verantwortlich für die Geburt der Kreatur, sind seine Mitmenschen die Schöpfer eines gewalttätigen Mörders – man könnte dazu tendieren, ihn als Monster zu bezeichnen, doch widerspricht das der ganz und gar menschlichen Charakterisierung. Emotional konnte Boyle in diesem Fall die Tat von der eigentlichen Persönlichkeit der Kreatur trennen, führt uns somit zu einer Auseinandersetzung mit Konzepten der Schuld, Verantwortung und des freien Willens. Die Ermordung der Familie ist ein ganz bedeutender Schnitt, so reichert er die Figur mit einem Moralverständnis an. Doch überdies wird auf brisante Weise betont, wie jenes Handeln seinen Weg in die Welt findet.

Die Kreatur ist auf der Suche nach seinem eigentlichen Schöpfer: Dr. Frankenstein. Als der Wissenschaftler von der Kreatur flüchtete, hinterließ er sein Tagebuch. Die Kreatur ist nun in der Lage, jenes Tagebuch zu lesen und wird dabei aufgrund seiner Taten zu einem Monster, getrieben von einer einzigen, ganz und gar menschlichen Idee: Jene der Liebe. Letztendlich beginnt jedoch gleichzeitig für den Zuschauer ein geschickt gesetzter Entfremdungsprozess: Als er dem kleinen, jungen Bruder Dr. Frankensteins begegnet, möchte er ihn zunächst mit Konzepten der Freundschaft verleiten, ihm zu folgen. Der Junge möchte dies nicht, wehrt sich, doch es kommt zur Entführung und letztendlich zur Tötung des Jungen.

Sein Ziel dabei war offenkundig die Begegnung mit Dr. Frankenstein. Die Kreatur begründet sein Verhalten logisch, es hätte zum Ziel geführt. Es wäre sinnvoller gewesen, als etwa die halbe Population der Stadt zu massakrieren. Der nächste Schnitt zur Erkundung des Menschen liegt in einer intensiven Konfrontation von Frankenstein und der Kreatur. In einem imposanten Dialog stehen sie sich in gewisser Weise als ebenbürtige Menschen gegenüber, die von verschiedenen Motiven getrieben sind. Als Frankenstein die Kreatur als Mörder bezeichnet, ihm Schuldzuweisungen macht, reflektiert die Kreatur jenes auf die Schöpfung Frankensteins, sieht jene Schöpfung und damit einhergehenden Morde in ebenseiner Verantwortung.

Einerseits wird eine Begeisterung des Wissenschaftlers für seine Kreatur spürbar – es werden die typischen Themen des Menschen als göttlichen Schöpfers angeschnitten. Andererseits steht dem die Forderung der Kreatur gegenüber: Dr. Frankenstein solle ihm ein weibliches Gegenstück erschaffen – nur dann würde er ihn und seine Familie in Ruhe lassen.

Lieben und Lieben lassen…

Konzepte der Liebe werden nun tatsächlich aus zwei Perspektiven erarbeitet; beschreiben somit das Herzstück der Erzählung und dem klassischen Kern bei der Zeichnung der Natur des Menschens. Auf der einen Seite befindet sich Dr. Frankenstein, welcher seine Verlobte vernachlässigt: Sie würde gerne mit ihm Kinder zeugen, tatsächliches Leben erschaffen. Grundsätzlich scheint Dr. Frankenstein nicht einmal mit ihr zu reden, würde sich verschanzen. Als es jedoch zu den Drohungen des Monsters kommt, verlässt Dr. Frankenstein seine Verlobte, verspricht, dass er wiederkommen würde, sie dann eine Familie gründen würden. Er reist nach Oxford, um den Wünschen der Kreatur nachzugehen und seinen eigenen, wissenschaftlichen Trieb zu befriedigen.

Die Kreatur folgt ihm, erkennt dabei, dass er aus Leichenteilen geschaffen wurde – hinterfragt jene Schöpfung, ekelt sich, ist sich jedoch sicher, dass sein eigenes Leben trotz des Ursprungs wertvoll sei. Es kommt zur erneuten Kreation, zu einer Frau. Zwar ist sie ebenfalls durch Narben entstellt, doch nicht annähernd so drastisch, wie die Kreatur. Sie wird von Dr. Frankenstein als Perfektion beschrieben. Die Kreatur bettelt förmlich darum, dass jene Frau animiert wird, er würde sie für immer lieben. Dr. Frankenstein möchte wissen, ob die Kreatur jenes Konzept wirklich versteht: Und tatsächlich scheint die Motivation der Kreatur einem intrinsischen Wunsch eines liebenden Partners zu entspringen. Fasziniert von seiner Schöpfung zerstört Frankenstein die weibliche Kreation: Wer wüsste, ob sie gefährlich werden würde; wer wüsste, wie die Kreatur handeln würde.

Die nächste Eskalation folgt, und die Kreatur, die weitere Schritte in Richtung der emotionalen Welt eines Menschen eindrucksvoll demonstrierte, handelt nun aufgrund des entscheidenden Motives der Liebe. Die Kreatur sehnt sich nach Rache, wurde ihm doch seine Vorstellungen eines friedvollen Entzugs aus der Welt des Menschen mit einer Partnerin, die seiner Natur entspricht, entrissen.

Am Tag der Hochzeit…

…schleicht sich die Kreatur trotz verschiedener Sicherheitsvorkehrungen in die Kammern Dr. Frankensteins, in die Gemächer des frisch verheirateten Paares. Als sich die Verlobte Frankensteins alleine in dem Raum befindet, kommt es zur Konfrontation der Kreatur und der Verlobten. In jenem Dialog scheint die Verlobte Frankensteins volles Verständnis für die Kreatur zu zeigen; es entsteht ein inniges Gespräch. Doch die Kreatur meint, sie könne nicht mehr anders: Nach all dem Leid fühlt er, dass er Frankenstein bestrafen müsse – es kommt zur Vergewaltigung und zum Mord des zweiten Menschen nach De Lacey, der die grundsätzliche gute Seele der Kreatur zu erkennen meinte.

Dr. Frankenstein, entrüstet, möchte die junge Frau reanimieren – doch sein Vater stoppt ihn. Trotz der Genialität des Wissenschaftlers scheitert er; verliert alles. Getrieben von Motiven der Menschlichkeit verlieren sowohl die Kreatur als auch der Wissenschaftler ihr menschliches Wesen. Dr. Frankenstein verfolgt die Kreatur in Gegenden mit arktischen Temperaturen, kollabiert, scheint dem Tode nahe. Die Kreatur geht sogar vom Tod des Wissenschaftlers aus, gesteht ihm dabei seine Bewunderung und Liebe. Die Kreatur zieht den Schlitten des Wissenschaftlers und jenen selbst in einen Nebel, und das Stück endet.

Und wir…

sitzen mit offenen Mündern da, als die Schauspieler auf die Bühne gehen und applaudiert werden. Als die Credits eingeblendet werden, bewirkt die kontinuierliche Intensität während der gesamten Laufzeit des Stückes eine wortlose Bewunderung. Danny Boyle gelingt ein Geniestreich: Mit seiner Kreation lässt er uns unsere eigene Natur reflektieren, befeuert durch die Empathie, die er Schnitt für Schnitt herausfordert. Er unterstreicht somit wohlmöglich den entscheidendsten Wesenszug des Menschseins.

Er ist damit in der Lage ein universelles, grundlegendes Menschenverständnis zu extrahieren und überzeugend zu präsentieren. Es handelt sich um ein Meisterwerk, das ganz wesentlich durch die schauspielerischen Leistungen von Benedict Cumberbatch und Johnny Lee Miller animiert wird. Es ist spürbar, dass sie mit dem Einsatz ihrer ganzen Seele die Ideen des Werkes tragen.

Um jenes Theaterstück um Gesamtwerk beurteilen zu können, ist es wahrscheinlich erforderlich die Version mit der jeweils gegenteiligen Besetzung von Benedict Cumberbatch und Johnny Lee Miller zu erleben. In jenem Tausch liegen ebenfalls Aussagen, die bei einer Änderung jener Dynamik herausgestellt werden können. Nichtsdestotrotz, sollte man die Chance haben, nur eine dieser Versionen zu sehen, handelt es sich um eine intensive, seelenvolle Erfahrung.

Das Theaterstück wird momentan im Savoy Kino in Hamburg gezeigt, es gibt für beide Versionen weitere Vorstellungen. https://www.savoy-filmtheater.de/english-theatre.html

Bild: Entnommen aus dem Trailer von English Theatre Live (2011) von Nick Dear’s Frankenstein, https://youtu.be/aY85IzWexWo, abgerufen am 23.10.2018.