Making A Murderer

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„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ – Erster Artikel des deutschen Grundgesetzes

Als Grundpfeiler der Gesellschaft betrifft die Justiz jedes einzelne Mitglied. Bei der Bestrafung sind vielfältige, abstrakte Konzepte zu beachten, die Einzug in den verschiedenen Strafsystemen der Welt gefunden haben. Eines haben diese Systeme jedoch gemeinsam: Den Menschen. In der zehnteiligen Dokumentarserie „Making A Murderer“ werden die berühmten Avery-Mordfälle aufgearbeitet. Der unschuldige Steven Avery wurde der Vergewaltigung einer Frau beschuldigt. Eine Jury hatte ihn für schuldig befunden – neue Beweise führten jedoch 18 Jahre später zur Freisprechung. Bis es zu einem Mordfall gekommen ist.

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Die grundsätzlich menschliche Perspektive auf die tragischen Geschehnisse ist die Stärke der Dokumentarserie. Die Motive der Beteiligten (Justiz, Polizei und Täter) werden in zahlreichen Interviews offenbart. Die begangenen Fehler sind drastisch: Ein Unschuldiger verliert unzählige Jahre in Freiheit. Obwohl die Dokumentation etwa zehn Stunden andauert, kann in dieser Zeit keine umfassende Diskussion der Fälle erfolgen. Die Art und Weise der Aufbereitung impliziert jedoch die Position eines Allwissenden, die durch zahlreiche Expertenurteile unterstrichen wird. Problematisch wird das, wenn dies einen Prozess der Meinungsbildung initiiert, der im Wesentlichen von eindeutigen Schuldzuweisungen geprägt ist.

Ein Mordfall ist überaus komplex. Dies spiegelt sich unter anderem in der Dauer eines Gerichtsverfahrens, der Anzahl der Beweismittel und den hohen Kosten wider. Gerechtigkeit, Schuld und die Konstruktion der Wahrheit sind Konzepte, die einer langfristigen und ausführlichen Auseinandersetzung bedürfen. Letztendlich handelt es sich stets um eine Annäherung an diese Konzepte, eine zweifellose Aufklärung jener erscheint hingegen unmöglich. Sowohl die Konsequenzen einer Verurteilung, als auch die einer Freisprechung, können gewaltig sein. Während die Gewichtigkeit der Konsequenzen eindrucksvoll von „Making A Murderer“ repräsentiert wird, fehlt eine entsprechende Anerkennung der undurchdringbaren Komplexität – und diese ist in der Bewertung eines grundsätzlich menschlichen Systems von fundamentaler Bedeutung.

Wenn Schuldzuweisungen gemacht werden, werden Filmschaffende zu Richter. Obwohl jene Urteile zugleich implizit relativiert werden, bleibt der Eindruck, dass präsentierte Informationen in „Making A Murderer“ durch einen Filter gezielt reduziert wurden, um jenes Urteil über bestimmte Personen dieser Maschinerie sprechen zu können. Das wird deutlich, wenn die eineinhalbstündigen Abschlussplädoyers der beiden Parteien auf etwa 15 Minuten gekürzt werden. Es liegt im zeitlichen Rahmen der filmischen Präsentation begründet, dass nicht alle Informationen gleichgewichtig behandelt werden können. Letztendlich wird jedoch jene komplexe Struktur der Systeme auf ungeeignete Weise heruntergebrochen; die eigene Position bei der Auseinandersetzung mit dieser Thematik nicht reflektiert. Es entsteht der Eindruck, dass ein verzerrtes und undifferenziertes Abbild der Geschehnisse zusammengestellt wurde, um eindeutige Feindbilder zu schaffen.

Die Welt könnte so einfach sein: Gut und Böse. Wenn Steven Avery nicht der Böse ist, liegt der bösartige Akt in der Verurteilung – also müsste es andere geben, die für jenen Akt verantwortlich wären. So der kausale Schluss, der den grundsätzlichen Wunsch einer berechenbaren, vernunftbasierten Welt widerspiegelt. Jener Gedanke findet sich in zahlreichen Kommentaren zu politischen Themen – aus einer gewaltigen Komplexität folgt eine Reduktion auf einfache, logisch erscheinende Kausalschlüsse. Trotz der handwerklich gekonnten Präsentation des Themas verbirgt sich in der Argumentation der Filmschaffenden jenes Weltbild. Verwerflich wird das, wenn die Filmschaffenden sich dieser unzulässigen Reduktion der Komplexität bewusst sind und die Schuldzuweisungen schließlich lediglich der Dramaturgie dienen.

Letztendlich handelt es sich bei „Making A Murderer“ um einen spannenden Krimi, der zahlreiche, andere konstruierte Fantasiegeschichten über Mord und Justiz in den Schatten stellen kann. Die Filmschaffenden beweisen in jeder Folge aufs Neue, dass sie intensive und grundsätzlich faszinierende Spannungsbögen ziehen können. Die Dramatik liegt in der Natur des Falles – die Spannung in der Argumentation der verschiedenen Parteien und den Entwicklungen, die Schritt für Schritt offengelegt werden. Originalaufnahmen zeugen von der gewaltigen Energie der Beteiligten, die sich insbesondere im Einsatz der Anwälte zeigt. Sprache und Argumentation unterstreichen die Fähigkeiten der Spitzenanwälte und stellen das Gericht ins Rampenlicht. Die Dynamik der Fälle wird von den Juristen erfasst und auf überwältigende Weise präsentiert. Obwohl Originalaufnahmen die Grundlage bieten, mussten die Dokumentarfilmenden jene Dynamik einfangen und in eine geeignete Struktur bringen. Dies meistern sie mit Bravour.

Das Schicksal von Steven Avery ist mit starken Emotionen verbunden, die in dieser zehnteiligen Dokumentation in jeder Folge transportiert werden. Es handelt sich bei dem Verurteilten um einen Menschen, wie in Interviews mit dem Beschuldigten, seinen Freunden und seiner Familie besonders deutlich wird. Jene menschliche Komponente ist die bestimmende Zutat, die den Zuschauer bindet und bewegt. Leider unterliegen die Filmschaffenden anscheinend dem Fehlschluss, dass sie zusätzlich eindeutige Feindbilder benötigten, um einer klassischen, dramaturgischen Struktur gerecht werden zu können. Es versteht sich von selbst, dass die filmische Aufarbeitung der Fälle hervorragend zur Auseinandersetzung mit Konzepten der Gerechtigkeit geeignet ist – wegen der unreflektierten Position der Filmschaffenden, liegt die Aussagestärke über diese Konzepte jedoch lediglich in der grundsätzlich brisanten Thematik. Die Filmschaffenden verfehlen damit das Ziel, eine wohl-strukturierte und durchdachte Kritik an das System zu formulieren.

Es liegt in den gewaltigen Implikationen und dem emotionalen Kern des Falles begründet, dass“Making A Murderer“ den Anschein einer überzeugend-formulierten Kritik macht. Durch Schuldzuweisungen verfehlen die Filmschaffenden jedoch das höhere Ziel, und schwächen damit letztendlich die Aussagestärke der gravierenden und ernüchternden Avery-Mordfälle, die als Paradebeispiele die menschlichen Mängel der vorherrschenden Strafsysteme aufzeigen.

Ein Hoch auf die Unschlundsvermtung!

2 von 5

 

 

Bild: Aus „Making A Murderer“ (2015), © Netflix

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