Shoplifters

Hirokazu Kore-eda besticht in seinem Werk „Shoplifters“ (2018) mit einer ausdifferenzierten emotionalen und moralischen Auseinandersetzung mit schwerwiegenden Verbrechen. In diesem Fall handelt es sich um Verbrechen an Kindern: In keinem Atemzug wagt es Hirokazu Kore-eda auch nur ansatzweise, die Täter zu entmenschlichen und erreicht damit eine von ihm schon so oft demonstrierte beeindruckende Authentizität.

Kore-eda besticht in seiner natürlichen Arbeit mit Kindern; sein Feingefühl mit jenen Akteuren hat er bereits vielfach unter Beweis gestellt. Er ist in der Lage, eine immense facettenreiche und emotionale Vielfalt aus dem Schauspiel von Kindern präzise zu nutzen, um aus dieser eine mitreißende Dramatik zu schöpfen. Aus scheinbar simplen Geschichten werden überzeugende und hochkomplexe Analysen, die nur mit solch einem meisterlichen Umgang zu erreichen sind. Er nutzt seine jungen Akteure als Instrumente, die eine gezielte Stimmung induzieren, subtile Veränderungen im Klang kreieren, und damit ein vielschichtiges und interessantes Gesamtwerk produzieren.

Man denke dabei nur an „Nobody Knows“: In jenem Werk wird eine Gruppe von jungen Geschwistern von ihrer alleinerziehenden Mutter alleine gelassen. Die resultierende Spirale der Eskalation entfaltet ihre Wirkung gerade deswegen, weil Hirokazu Kore-eda stets die natürliche Kindlichkeit und gegenseitige Liebe der Geschwister in den Vordergrund stellt. Dieses überzeugend ausgearbeitete emotionale Konstrukt nutzt Hirokazu Kore-eda als Grundlage für eine gelungene und differenzierte emotionalen Verarbeitung der dramatischen Situation.

Sein Interesse an moralischen Fragestellung zeigte Kore-eda eindrucksvoll in „Like Father, Like Son“ – es stellt sich heraus, dass Kinder bei der Geburt vertauscht worden sind: Was bedeutet dies für die betroffenen Familien und insbesondere für die Kinder? Auch in diesem Fall lenkt er geschickt unsere moralische Intuition mit überzeugenden, emotionalen Facetten der noch jungen Akteure.

Doch in diesem Fall, bei „Shoplifters“, geht es um Kindesentführung, sogar um Mord. Letztendlich jedoch wesentlich um ein spezielles Familien- und Beziehungskonzept. Ein aktuelles, populäres Werk behandelt auf spektakuläre Weise ein ähnliches Thema: „Raum“ (2015) von Lenny Abrahamson. In diesem Werk wurde in Perfektion der Entzug der Freiheit genutzt, das kreative und schöpferische Wesen des Kindseins herausgearbeitet;  Die so bedeutungsvolle und intime Mutter-Kind-Beziehung wurde so beschrieben und belebt. Inhaltlich jedoch ist dieser Film sehr dramatisch, ja, wie kann eine Entführung auch anders sein? Der Täter ist in jenem Film deutlich ein Unmensch. Dass es sich auch bei Tätern um komplexe, menschliche Wesen handelt oder handeln kann, zeigt Kore-eda in „Shoplifters“.

Und hier komme ich an meine Grenzen, um inhaltlich nichts vorweg zu nehmen: Es handelt sich nahezu um einen Geniestreich, dass die Identitäten und Verbindungen eines familiär-wirkenden Verbrecherkonglomerates Schritt für Schritt hinterfragt werden. Nur langsam stellt sich heraus, dass das Beziehungsgeflecht einen grundsätzlich moralisch verdorbenen Ursprung hat, handelt es sich um eine Familie, oder um etwas gänzlich anderes? In sich ist jene Herangehensweise bereits spannend, doch besteht das Grandiose darin, dass Hirokazu Kore-eda in der Lage ist, komplexe und emotionale Beziehungen in jenem Geflecht sensibel herauszustellen.

Erinnern wir uns an „Die Taschendiebin“ (2016) von Park Chan-Wook (u.A. „Oldboy“, 2003, Südkorea). In jenem verbrecherischem Als-Ob-Familien-Drama ist bereits von Beginn klar, dass eine verdorbene Grundlage der präsentierten Familien bestimmte, dramatische Spannungen grundsätzlich verursachen. „Shoplifters“ kontrastiert jene Idee massiv, stellt es grundsätzlich in Frage, wirkt dabei jedoch in keinster Weise unnatürlich. Handelt es sich bei „Die Taschendiebin“ um Figuren, die als Mittel zum Zweck zur Präsentation von dramatischen Wendungen dienen, sind wir in dem Fall von „The Shoplifters“ mit komplexen, emotionalen und liebenden, ganz und gar menschlichen, ja, eben – Menschen – konfrontiert.

Bestimmte moralische Fragen, die sich im allgemeinen Weltverständnis scheinbar leicht beantworten lassen, die Eindeutig auf der Seite von Gut und Böse stehen, verlieren durch jenen Eingriff diese drastische Eindeutigkeit. Dadurch erhält dieser Film einen besonderen Wert. Es ist klar: Eine Entführung liegt auf der bösen Seite unseres Moralverständnisses. Dadurch, dass wir Täter als Menschen kennen lernen, schwingen der innere, moralische Kompass und damit verbundene Emotionen in abstruse Richtungen. Abstrus deshalb, weil wir jenes nicht von der Auseinandersetzung mit solchen klaren, moralischen Verstößen im Film gewohnt sind. Doch genau dadurch ist jene Erfahrung differenziert und außerordentlich spannend: Obwohl er sich keiner heftigen, dramatischen Wendung bedient, wie etwa in „Nobody Knows“, sind es subtile, innere Gefühlsschwankungen den Personen und Taten gegenüber, die Kore-eda induziert, die diesen Film zu einer grandiosen Selbsterfahrung machen.

Bild: © Wild Bunch Germany