Thelma

Joachim Trier präsentiert mit „Thelma“ eine Superheldenstory: In der ersten Szene, ihr Vater mit ihr unterwegs zum Jagen, scheinbar – als Thelma nicht hinblickt, richtet ihr Vater das Jagdgewehr auf seine Tochter. Zuvor saßen sie gemeinsam, unscheinbar und vertraut in der Natur. Und er schießt nicht. Welche bösartigen Kräfte verleiteten den Mann, sein Gewehr auf seine Tochter zu richten?

Viele Jahre später – Thelma, jetzt Studentin der Biologie – fühlt sich das junge Mädchen isoliert. Ihre Mutter befindet sich im Rollstuhl und, aus der Ferne, besteht sie in Telefonaten auf auffällig viele Informationen über den Tagesablauf des konservativ christlich erzogenen Mädchens. Der Regisseur leitet ihr Erwachsenenleben mit Gegebenheiten ein, die zwar verdächtig sind, aber nicht ganz ungewöhnlich. Außerdem positioniert er den Vater weiter in ein weitestgehend liebevolles Licht: Jene Natur des Vaters bekräftigt die Protagonistin Thelma wiederholt.

Ihre Einsamkeit spiegelt sich in ihren sehnsüchtigen Blicken wieder, als sie abends die sozialen Facebook und Instagram Neuigkeiten von Kommilitonen begutachtet. Eine von ihnen, Anja, grüßte sie einst im Schwimmbad der Universität, unterhielt sich kurz mit ihr. Für Thelma öffnete dies die Tür für ein zwangloses Leben: Man spürt regelrecht eine Art Befreiung, die sie mit jeder weiteren Etappe erfährt – romantische Gefühle, gesellige Abende mit Gleichaltrigen, sogar Genussmittel wie Tabak und Alkohol kostet sie.

Dabei wird sie jedoch, wie sich herausstellen wird, von sogenannten Psychogenen Nichtepileptischen Anfällen geplagt (zumindest lautet so die Diagnose), welche insbesondere in sozial anstrengenden Situationen, die von einer sichtlichen inneren Unruhe begleitet werden, vorkommen. Teilweise erlebt sie jenes auch in Träumen. Im Prinzip handelt es sich um epileptische Anfälle ohne entsprechender neuronaler Signatur, die also einer psychologischen Natur sind. Etwa stellen gegenseitige romantische Gefühle für Anja einen erheblichen inneren Konflikt dar.
Schritt für Schritt lässt sich erahnen, aus welchen Gründen das Gewehr auf das unschuldige Kind gerichtet wurde, schließlich haben entsprechende Anfälle eine übernatürliche Wirkung, welche auch die Gegenseitigkeit der romantischen Gefühle von Anja und Thelma infrage stellt. Schließlich hatte Thelma in ihrem Traum die Kontrolle über Anjas Körper übernommen und sie in Richtung ihres Appartements geführt. Ob damit nachhaltig Gefühle induziert wurden, bleibt unbeantwortet.

Sie erfährt bei einer medizinischen Untersuchung, dass sie, als sie etwa 6 Jahre alt war, einen Anfall gehabt hätte, welcher mit außerordentlich starken Medikamenten behandelt wurde. Rückblicke zeigen, dass Thelma einen jüngeren Bruder hatte. Diesen ließ sie beispielsweise verschwinden und später an für sie eigentlich unerreichbaren Orten wieder auftauchen, bloß mit ihrer Geisteskraft. Führte jener Umstand zur Eskalation? Als die Ärzte sich über ihre medizinische Familiengeschichte erkundigen, wird in Erfahrung gebracht, dass die totgeglaubte Großmutter sich in einem Pflegeheim befindet. Das Pflegepersonal meint, dass sie viel zu starke Medikamente erhalten würde. Behandelt wurde sie, weil sie die wahnhafte Vorstellung hatte, für das Verschwinden ihres Mannes verantwortlich zu sein.

Es spinnt sich eine bis hierhin eindrucksvolle Coming-of-Age Geschichte – eine Art glaubwürdiges Prequel eines Mutanten eines Superheldenfilmes. Mit schnellen Schritten zur Eskalation verlieren die Geschichte und beteiligten Personen jedoch daraufhin an Glaubwürdigkeit. Jene Sensibilität, mit welcher Joachim Trier die ersten beiden Akte strickte, weicht für spektakuläre Szenen und Wendungen, welche dramaturigsch jener moderner Blockbuster gleichen. Und zwar, nach einem heftigen Zusammenbruch, im Hause ihrer Eltern, wo sie das erste Mal von diesen Begebenheiten berichtet. Das Gesamtwerk wirkt so insgesamt nicht stimmig, wenngleich es insgesamt ein unterhaltsamer Film bleibt.

Jene anfängliche Sensibilität ließ vermuten, dass der Film eine bestimmte Intelligenz haben soll, einen moralischen Standpunkt untersuchen könnte und die Übernatur der Thelma als interessantes Gedankenspiel eine Auseinandersetzung mit der Person und Situation erlauben würde. Vielleicht wäre dies sogar mit den präsentierten Handlungspunkten gegen Ende des Filmes möglich gewesen, hätte Trier der Sache mehr Zeit gegeben. Wie man das richtig macht, präsentiert etwa der aktuelle Film „The Killing Of A Sacred Deer“ von Giorgos Lanthimos.

Abschließend lässt sich bloß sagen: Schade. Über eine anschauliche Spieldauer erweckte der Film den Eindruck, dass der Regisseur uns etwas wirklich Wertvolles zu erzählen hätte, doch verläuft er sich ganz und gar, will spektakulär sein und wird gerade deshalb ganz und gar unspektakulär.

Bild: Aus „Thelma“ 2017 © SF Norge A/S

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